Der Erwählte (von Thomas Mann)
Inzest als Metapher - mit neuem Blick aufs Seelische


Ein "Apropos"-Beitrag

- geht auf einen Kommentar oder Beitrag in facebook zurück


Kontext: Die Bemerkung (von Camillo Schrimpf) "Ödipus Rex [sei] einfach der größte Sünder/Straftäter, den man sich denken kann. Tatsächlich [habe] die Angst vor INZEST biologische Gründe. Das Gesetz/die Moral [sei] "nur eine Art Überbau. Thomas Mann in der Novelle 'Der Erwählte' hatte schon diesen Gedanken: Gregorius ist der größte Sünder auf Erden: Ein Ödipus Rex. Und er endet auf dem Stuhl Petri (in Rom) als Papst". 

Darauf entstand folgender Kommentar und jetzt "Apropos-Beitrag":


Der Erwählte von Thomas Mann... das trifft sich gut, das ist einer meiner Lieblingsromane. Der Inzest wird hier aus dem Koordinatensystem "Schuld" herausgelöst und für eine andere Beschreibung und Draufsicht freigemacht. Von hier aus fällt es leichter auf ein Seelisches zu schauen, das es im Grunde mit sich selber treibt. Das ist es, was auch schon Thomas Mann gekitzelt hat, ins Gespür (wenn auch noch nicht Gespräch) zu bringen. Wunderbar kann jeder sich das erlesen in den so ziemlich letzten Zeilen des Romans. Folgendes geht voraus: Sohn und Mutter, haben unschuldig, aber irgendwie doch etwas von ihrem Sohn/Mutter-Verhältnis ahnend, geheiratet, zwei Mädchen bekommen, sind dann aber in Klarheit über ihren Inzest, (Buße nehmend) auseinandergegangen und treffen sich wieder, als er in Rom Papst geworden und die gemeinsamen Töchter bereits im heiratsfähigen Alter sind (Sie, die Mutter, heißt Sybilla; er, ihr Sohn, der zugleich aber auch Vater der gemeinsamen Töchter Stultitia und Humilias ist, heißt Gregorius). 

"Unsere Töchter!" rief er. "Wo sind sie?" "Es war mir etwas empfindlich" erwiderte sie, "das du noch nicht nach ihnen fragtest. Sie sind im Geheimen Vorzimmer". "So weit von hier? Man soll sie vor Uns bringen, sogleich!" Das geschah. Stultitia und Humilitas kamen zu ihnen herein ins Innerste und durften auch nur den Ring, nicht den Pantoffel küssen. "Liebe Nichten" sagte Gregorius, "so nennen Wir euch, da euere Mutter im Papste einen Seitenverwandten erfunden hat. Wir freun Uns lebhaften Herzens, euch kennenzulernen in eurer verschiedenartigen Lieblichkeit."
Da siehst du, ehrfürchtig Geliebte, und Gott sei dafür gepriesen, dass Satanas nicht allmächtig ist und es nicht so ins Extreme zu treiben vermochte, dass ich irrtümlich auch noch mit diesen in ein Verhältnis geriet und etwa gar Kinder von ihnen hatte, wodurch die Verwandtschaft ein völliger Abgrund geworden wäre. Alles hat seine Grenzen. Die Welt ist endlich."
Noch vieles sprachen sie miteinander, und wie einst, nur unter so viel glücklicheren Umständen, traf Gregorius seine Verfügungen, da er der Mann war und obendrein Papst [...]"


Ironie und "Tatsachenbeschreibung" vom Feinsten, die man allerdings nur genießen kann, wenn man auch sonst ein Auge für das allgegenwärtige "Treiben des Seelischen mit sich selbst" erworben hat, und ein "Seelisches Ineinander" auch dort sehen kann, wo es nach unserer Natur(wissenschaftlichen)Bibel gar nicht stattfinden dürfte. Thomas Manns Roman kann man als einen Beitrag für die Emanzipation einer neuen Wissenschaft, sehen, nämlich einer Wissenschaft von den "erlebbaren Zusammenhängen". Man kann in ihr eine Wissenschaft sehen, die zwar von den Fallstricken einer noch dominierenden Naturwissenschaft nicht wirklich befreit ist, die sich in DIESEN aber auch nicht mehr VERLIEREN muss (das Allzuwörtlich-nehmen eines "Ödipusvergehens" für ein Seelenverständnis im Allgemeinen - auch dies wird hier, wie grade mal so nebenbei, auf die Schippe genommen) Eine neue Haltung diesbezüglich bekundet Gregorius, Papst und leiblicher Vater seiner; mit der eigenen Mutter gezeugten Kinder GLEICHNISHAFT, indem er den beiden seinen Ring und NICHT auch noch den PANTOFFEL zum Kusse gibt! Spott und Ernst kommen hier in einer dichten Weise zusammen, so wie es in einer guten Zeitkritik (Kritik an einem noch kryptisch sich bewegendem Wissenschaftsverständnis von Psyche) und in einem pfiffigen Plädoyer zu sein hat.


Autor: Werner Mikus


Bildverweis: https://pictures.abebooks.com/BUCHGEISTER/md/md30285789312.jpg

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Entwicklungstherapie

Ist das Seelische ein zusätzliches Organ?

Von Literatur und Autorenschaft lernen