Freiheit (klar und schillernd)

Bildanalytischer Appetizer Nr. 7


Wenn wir Freiheit mit "Freisein von" gleichsetzen, sind wir fixiert auf genau das, von dem wir frei sein wollen. Das hat dann nichts mehr von Leichtigkeit und Hingabe. Eher führt es uns zu einer titanenhaften Anstrengung unter dem Thema "Freisein von".

Schauen wir uns das im privaten Bereich an

In einer Liebesbeziehung kann sich das Streben nach einem "Freisein-von" z.B. darin zeigen, alles zu tun, um nicht irgendwann vom Partner verlassen zu werden. Vielleicht lesen wir ihm deshalb jeden Wunsch von den Lippen ab und versuchen ihm die Wünsche zu erfüllen.

Ein "Freisein für"...

würde sich auf andere Weise zeigen: Wir wären frei für das uns Verbindende und Einzigartige, was wir möglicherweise noch gar nicht kennen: Vielleicht erfreuen wir unseren Partner gerade dadurch, dass wir mitreißend den eigenen Wünschen nachgehen, statt aufdringlich nach den Seinen zu fahnden.




Schauen wir uns das im Bereich der Wissenschaft an

(1) In der Wissenschaft heißt es nämlich: Freisein von Widersprüchen!
Paradoxien gelten dann als Merkwürdigkeiten, die uns täuschen aber irgendwann durch exakte Zerlegungen aufgelöst werden sollen.
(2) Im gleichen Sinne heißt es: Unbekanntes muss auf Bekanntes zurückgeführt werden. Das Wundern oder Staunen steht also nicht im Mittelpunkt, es soll vielmehr überwunden werden. (Einstein scheint davon mehr als gewusst zu haben wenn er sagt: "der Fortgang der wissenschaftlichen Entwicklung ist im Endeffekt eine ständige Flucht vor dem Staunen").

"Freisein für" hieße in diesem Bereich:

(1) Wir suchen ein Staunen herzustellen, also etwas zu finden, was wir nicht erwartet haben (Verstehen ist Verdrehen). Und im Weiteren:
(2) Die Widersprüche in den Paradoxien werden nicht mehr als Grenzen für ein Verstehen gesehen, sondern als begehbare Brücken: Wenn wir nämlich die unaufhebbaren Widersprüche als Motivation für ein Ganzes nehmen, beginnen wir zu verstehen, dass Entwicklung nicht zum Stillstand gebracht, nur unterdrückt werden kann. 

Schauen wir und das im Bereich der Medizin an

Hier heißt es: Freisein von Krankheit und Störungen.




Als man in der Medizin den Versuch unternommen hatte, unter derselben Devise auch psychische Probleme anzugehen, kam es zu einer unangenehmen Überraschung: Der konsequente Versuch, ein Freisein von den Kehrseiten und Bedrängnissen seelischer Entwicklung zu erreichen, erwies sich nämlich als DECKUNGSGLEICH mit den Methoden, die den Patienten erst in sein Unglück hineingebracht haben (Symptombehandlung). Die typische Neurose entpuppte sich als gelebter Versuch, ein unbedingtes Heilesein herzustellen). Psychotherapie und Heilen haben also ein heikles Verhältnis zueinander, sie stehen sich gleichsam komplementär gegenüber.

Das Prinzip eines "Freiseins für"...
ist aber kompatibel mit einem Aus- und (teilweisen) Umbauen seelischer Strukturen: Für die Psychotherapie heißt das: Da wo es klemmt, müssen Veränderungsspielräume aufgefunden und genutzt, nicht aber Zusammenhänge "repariert" werden. Die Psychotherapie sollte mit ganzem Herzen versuchen, eine eigene Profession und in diesem Sinne Entwicklungstherapie zu sein.

Einladung zu einem neuen Sehen und Zusammendenken

"Freisein für" die prinzipiell nicht vorhersagbaren Wendungen einer Entwicklung, ist Hingabe. Es ist die erste Form und Realisierung eines Freiseins. Der abendländische Mensch aber ist darauf programmiert, erst einmal "frei sein zu müssen von"... (frei sein von Mängeln, Zwängen, oder Zweifeln z.B.) bevor eine Hingabe ihm erlaubt ist. Die Bildanalytische Psychologie will die entsprechende Vereinseitigung in unserem "Denken" und in unserer Haltung aufdecken und lädt zu einem neuen Sehen und  Zusammendenken ein.

Werner Mikus (Bildanalytiker)

1. Bild: pixabay
2. Bild: pixabay 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Entwicklungstherapie

Ist das Seelische ein zusätzliches Organ?

Von Literatur und Autorenschaft lernen